Die gefährliche Illusion vom Essen, die gesund macht

Moderne Lebensmittel sollen nicht nur satt, sondern auch gesund und jung machen. Das Versprechen wird selten gehalten – und ist sogar schädlich.

Es ist ziemlich leicht, der Lebensmittelindustrie ein paar Euro zusätzlich zu bescheren, wenn man im Supermarkt fürs Frühstück einkaufen geht. Die kommen schnell zusammen, wenn man sich statt Lebensmitteln, die einfach nur satt machen und schmecken, solche kauft, die einen Mehrwert versprechen, eine sogenannte Funktion: die Cholesterin senkende Margarine für 2,99 statt der 99 Cent für die herkömmliche Margarine, den mit Calcium und Vitamin C versetzen Saft, der 20 Cent teurer ist als der normale Saft des Herstellers, den Viererpack probiotischen Joghurt für 1,99 Euro statt der rund halb so teuren einfachen Joghurts. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. In der Bäckerei gibt es Omega-3-Brot und -Brötchen, im Reformhaus Frühstückseier mit zugesetzten Molekülketten.

Dabei haben die allermeisten Käufer gar keinen Bedarf für diese Lebensmittel. Eine Studie der Verbraucherzentralen und des Bundesinstituts für Risikobewertung stellte etwa fest, dass fast jeder zweite Deutsche, der cholesterinsenkende Margarine isst, keinerlei Probleme mit seinem Fettstoffwechsel hat.

Die eigene Marktforschung des Danone-Konzerns ermittelte, dass jeder dritte Käufer des entsprechenden Drinks keinen erhöhten Cholesterinspiegel hat. Gekauft wird der Drink trotzdem. Und die Margarine. Das spiegelt die Einstellung des deutschen Verbrauchers zu seiner Ernährung wider: Wer genug Geld investiert, kann sich Gesundheit im Vorbeigehen kaufen. Und: Wer am falschen Ende spart und anschließend herzkrank wird, ist selber schuld.

Milliardenumsätze mit Functional Food

Der Industrie beschert diese Vorstellung riesige Umsätze: rund neun Milliarden Euro, die die Deutschen jedes Jahr für Nahrungsmittel ausgeben, mit denen sie sich gesund essen wollen. In den letzten fünf Jahren ist der Markt für diese Lebensmittel um ein Drittel gewachsen. Was davon unter „Functional Food“ fällt, also unter Lebensmittel, die beim Verzehr ganz konkret die Gesundheit durch zugesetzte Substanzen fördern sollen, hat keine Marktforschungsfirma erhoben. Es gibt aber ein paar Anhaltspunkte: Allein für cholesterinsenkende Lebensmittel blättern deutsche Kunden pro Jahr rund 60 Millionen Euro hin, für probiotische Joghurts sogar 550 Millionen.

Doch trotz der Milliarden, die die Deutschen Jahr für Jahr investieren, um sich gesund zu essen, wird das Volk immer kranker. Fast zwei Drittel der Männer in der Bundesrepublik sind übergewichtig oder sogar fettleibig und etwa die Hälfte aller Frauen. Sogar bei den Kindern hat sich die Zahl der Fettleibigen seit den 90er-Jahren verdoppelt. Die Gefahr von Herz- und Kreislauferkrankungen steigt in der Folge. In jungen Jahren trinken und essen sie sich einen Bierbauch und einen zu hohen Cholesterinspiegel an, dann merken sie irgendwann, dass es so nicht weitergeht – und versuchen, ihr Problem so zu lösen, wie sie es gelernt haben. Mit Konsum.

Forscher: Die funktionellen Nahrungsmittel bringen nichts

Jedes Jahr kommen Dutzende an neuen Functional-Food-Produkten auf den Markt. Doch Wissenschaftler und Ernährungsberater ziehen eine ernüchternde Bilanz: Die funktionellen Nahrungsmittel, die heute in unseren Supermarktregalen stehen, bringen mehrheitlich nichts. Im besten Fall sind sie wirkungslos. Im schlimmsten Fall gesundheitsschädlich.

„Bei der Masse an Functional Food geht es darum, ein Lebensgefühl zu vermitteln, aber mit Gesundheitsförderung hat das nichts zu tun“, sagt der renommierte Ernährungsforscher Peter Stehle aus Bonn. Auch sein Kollege Dirk Haller von der Technischen Universität Münster meint: „Funktionelle Lebensmittel können keine Krankheiten verhindern.“ Und Apothekerverbände betonen, dass der Genuss einiger der Lebensmittel nichts anderes als Selbstmedikation ohne ärztliche Aufsicht sei.

Um zu verstehen, welche Mechanismen hinter dem Geschäft mit den funktionellen Lebensmitteln stecken, muss man sich nach Paris begeben. Genauer gesagt nach Palaiseau, einen ländlichen Vorort im Süden der Stadt. Dort liegt das Forschungszentrum von Danone. Palaiseau ist der Geburtsort von Danacol. Ein cholesterinsenkender Joghurtdrink, der Gesundheit verspricht. Der Konzern hat ihn im Herbst mit Werbespots beworben. Darin war Schauspieler Heiner Lauterbach zu sehen, auf dem Arm seine kleine Tochter, der erklärte, ab jetzt werde gesund gelebt.

Grundlagenforschung bei Danone

Catherine Nicolle ist Grundlagenforscherin bei Danone. Man könnte Frau Nicolle eine Schlüsselfigur in der wissenschaftlichen Erforschung des Joghurtdrinks nennen. Sie war an den wissenschaftlichen Arbeiten beteiligt, unter anderem daran, die Wirksamkeit des Produktes aufzuzeigen. Drei Jahre habe die Entwicklung gedauert, sagt sie. Auf einer Folie ist ein Sieben-Stufen-Plan zu sehen: Marktanalyse, Ansatzpunkte zur Lösung des Problems „zu hohes Cholesterin“ suchen, Wirkstoff bestimmen, dann Darreichungsform – trinkbarer Joghurt oder Jogurt zum Löffeln? –, klinische Studien durchführen, die Ergebnisse in ein Markenbild umsetzen, Werbung.

Der Aufwand ist groß, nur etwa fünf Prozent aller neuen Produktideen bei Danone schaffen es tatsächlich in die Regale. Bis es so weit ist, muss ein neues Produkt viele Testläufe in der „Prototyp-Fabrik“ im Inneren des Forschungslabors überstehen, außerdem Dutzende Runden an Konsumentenbefragungen: Schmeckt der Joghurtdrink, ist die Verpackung ansprechend? Für Danacol wurden 7300 Konsumenten befragt. Die Danone-Marktforscher hoffen auf einen neuen „Blockbuster“. Danocol soll dem Konzern in den nächsten drei bis fünf Jahren 80 bis 100 Millionen Euro Umsatz bescheren.

„Blockbuster“ – der Begriff kommt ursprünglich aus Hollywood, von großen Kinoerfolgen, die die Kassen der Filmstudios klingeln lassen. Mittlerweile spricht man allerdings auch in einer anderen Branche von Blockbustern: der Pharmaindustrie. Bei Medikamenten, die gegen große Volkskrankheiten wirken sollen. Also gegen Krebs oder Bluthochdruck. Oder zu viel Cholesterin. Der fettähnliche Stoff, der unsere Zellmembranen stabilisiert, gilt bei zu hohen Werten als Auslöser von Herz-Kreislauf-Krankheiten und Krebs. Ihn unter Kontrolle zu halten ist das weltweit größte Geschäft der Pharmakonzerne. Der Industrie beschert der Verkauf der Cholesterinsenker fast 30 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr.

Milliarden-Umsätze mit Cholesterinsenkern

Warum davon nicht eine Scheibe abschneiden? Danone-Deutschlandchef Andreas Ostermayr rechnete bei der Markteinführung von Danacol vor, 70 Prozent aller erwachsenen Deutschen hätten einen erhöhten Cholesterinspiegel. Auf sie hat es auch Konkurrent Unilever abgesehen, der ebenfalls einen solchen Joghurtdrink im Programm hat. Und die Schweizer Großmolkerei Emmi. Und Nestlé. Und Coca-Cola. Das Konzept funktioniert meistens gut.

So gut, dass Danone sich ein Forschungszentrum mit 600 Mitarbeitern leistet. Und Konkurrent Nestlé aus der Schweiz im Herbst ankündigte, eine neue Industrie an der Schwelle zwischen Ernährungs- und Pharmabranche anführen zu wollen – mit seiner neu gegründeten Sparte Health Science, aus der künftig Wundernahrung gegen Diabetes, Fettleibigkeit und sogar Alzheimer kommen soll. So viel Forschung, Marktanalyse und Werbung ist teuer. Danone erklärt, die Entwicklung solcher funktioneller Lebensmittel koste „mehrere Millionen Euro“. Was wiederum den Preisaufschlag erklären soll.

Wenn Peter Stehle den Begriff Functional Food hört, schnauft er erst einmal durch. Er hat sich für das Gespräch erst einmal eine Cola light aus dem Kühlschrank geholt. Dogmatisch ist er also nicht, der Professor für Ernährungsphysiologie an der Universität Bonn. In seinem Fachgebiet geht es darum zu erforschen, wie einzelne Moleküle in den Körper gelangen und was genau sie dort tun. „Func-tio-nal Food“, sagt er und betont dabei jede Silbe, „Das, was die Lebensmittelindustrie unter diesem Namen vertreibt, geht an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbei.“

Vitaminzusatz ist Humbug

Er zählt auf: Säfte mit Vitaminzusatz – Humbug. „Wir hatten in Deutschland in den letzten Jahren noch nie Mangel an Vitamin C – oder haben Sie schon mal von Skorbutfällen gehört?“ Probiotika, also künstlich zugesetzte Mikroorganismen im Essen: „Da gibt es kaum Evidenz für eine vorbeugende, das heißt eine das Krankheitsrisiko vermindernde Wirkung.“ Omega-3-Fettsäuren: „Im Prinzip eine gute Sache. Nur leider ist die Menge, die Eiern oder Brot zugesetzt werden kann, nicht ausreichend.“

Stehle ist ein gefragter Mann in der Fachwelt. Momentan zieht er mit Vorträgen über die Wirksamkeit von Functional Food durch die Lande. Auf einer seiner Folien steht lapidar: „Der objektive Beweis, dass die Einführung von Functional Food generell den Ernährungs- und Gesundheitszustand der Bevölkerung verbessert hat, fehlt.“ Manche Lebensmittel jedoch, sagt der Professor, können sogar der Gesundheit schaden. Besonders kritisch sieht Stehle die cholesterinsenkenden Lebensmittel, also zum Beispiel Danone Danacol oder Becel pro-activ, Unilevers Blockbuster-Margarine.

Der Wirkstoff in beiden Produkten sind Phytosterine. Das sind pflanzliche Moleküle, die bei Pflanzen die gleiche Funktion erfüllen wie das Cholesterin beim Menschen und die zum Beispiel in Sonnenblumenkernen oder Avocados gehäuft vorkommen. In Danacol und Becel pro-activ sind sie in stark konzentrierter Form künstlich zugesetzt. Wer viele Phytosterine zu sich nimmt, dessen Körper nimmt – vereinfacht gesagt – weniger Cholesterin auf.

Tatsächlich ist die Wirksamkeit von Phytosterinen vielfach belegt, weltweit gibt es laut Danone mehr als 100 Studien zu diesem Thema. Das Unternehmen verlinkt auf der Internetseite Danacol.de auf mehrere Untersuchungen, die gezeigt haben, dass der regelmäßige Konsum einen erhöhten Cholesterinspiegel senken kann. Forscherin Nicolle betont, dass verschiedene internationale Gesundheitsorganisationen derselben Ansicht sind. Und Unilever weist auf seiner Website Herzalter.de darauf hin, dass die Wirksamkeit erst vor Kurzem erneut wissenschaftlich bestätigt wurde.

Sind cholesterinsenkende Lebensmittel gefährlich?

„Tatsächlich lässt sich durch den Konsum solcher Produkte eine gewisse Senkung des Cholesterinspiegels belegen.“ Dieser Zusammenhang sei anerkannt, betont er. Nur: „Das heißt nicht, dass damit auch das Herzinfarktrisiko sinkt.“ Denn statt Cholesterin nehme der Körper eben mehr Phytosterin auf. Was das langfristig für den Körper bedeute, sei kaum erforscht. Eines der wenigen Forscherteams, die sich mit diesem Thema bislang beschäftigt haben, sitzt am Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg an der Saar.

Vielleicht, sagt Professor Ulrich Laufs, der die Untersuchung leitete, habe die geringe Fallzahl kritischer Forschungsprojekte ja auch damit zu tun, dass man solche Ergebnisse nur schwer veröffentlichen könne. „Die wissenschaftlichen Magazine, in denen Fachartikel über Ernährung veröffentlicht werden, sind natürlich auch von den Lebensmittelherstellern als wichtige Werbekunden abhängig.“ Und bei wissenschaftlichen Kongressen träten die Nahrungsmittelkonzerne häufig als Mitveranstalter auf.

Die Homburger Studie wurde 2008 veröffentlicht. Das Ergebnis dürfte Unilever, Danone und Co. nicht gefallen haben. Laufs und seine Arbeitsgruppe hatten Labormäusen Futter gegeben, das mit Phytosterinen angereichert war. „Dabei haben wir festgestellt, dass sich bei diesen Tieren die Pflanzensterine in den Geweben ablagerten“, sagt der Mediziner. Im Vergleich mit einer Kontrollgruppe, die ein cholesterinsenkendes Medikament gefüttert bekam, wiesen die Mäuse, die Functional Food verspeist hatten, anschließend noch doppelt so viel Gefäßverkalkung auf.

Danone: Ergebnisse vom Tierversuch kaum übertragbar

„Kein Mensch weiß, was mit den Gefäßen passiert, wenn Menschen mit Risikofaktoren über eine lange Zeit hinweg größere Mengen einnehmen.“ Laufs sagt, eine spürbare Senkung des Cholesterins trete überhaupt erst beim Konsum hoher Dosen an Phytosterinen ein. „Es gibt also keine Hinweise auf eine deutliche Wirksamkeit solcher funktioneller Lebensmittel, dafür aber Hinweise auf eine möglicherweise nachteilige gesundheitliche Wirkung.“

Danone-Forscherin Nicolle weist darauf hin, dass es schwierig sei, Ergebnisse von Untersuchungen an Tieren auf Menschen zu übertragen. Da hier keine klare Einigkeit herrsche, arbeite das Unternehmen derzeit zusammen mit externen Forschungseinrichtungen daran, zusätzliche wissenschaftliche Belege für diese Fragen zu liefern. Die Pressestelle gibt auch noch die Empfehlung, sich die Gegenmeinung eines anderen Wissenschaftlers anzuhören, und zwar die von Professor Eberhard Windler vom Uniklinikum Hamburg-Eppendorf.

Der Forscher hat in den 90er-Jahren die Ernährungsweise weiblicher Patienten mit koronaren Herzkrankheiten statistisch erfasst. Dabei kamen die Forscher zu dem Ergebnis, dass ein hoher Fleischverzehr das Erkrankungsrisiko erhöhe, während ein hoher Verzehr von Obst und Gemüse das Risiko senke. Aus den Angaben errechneten sie auch, dass Menschen mit koronaren Herzkrankheiten meist vergleichsweise niedrige Phytosterinspiegel aufweisen. Einen Beleg für die Unbedenklichkeit der mit Phytosterinen künstlich versetzten Lebensmittel liefern diese Forschungsergebnisse allerdings nicht.

Behörde warnt vor Lebensmittel mit Pflanzensterinen

Den deutschen Behörden sind die Studienergebnisse aus dem Saarland seit Langem bekannt. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), eine Behörde des Verbraucherschutzministeriums, warnte kurz nach deren Veröffentlichung: Menschen mit normalen Cholesterinwerten sollten den Verzehr von Lebensmitteln mit zugesetzten Pflanzensterinen „ausdrücklich vermeiden“. Das BfR riet sogar ausdrücklich davon ab, weitere Lebensmittelgruppen mit Phytosterinzusatz für den Verkauf zuzulassen.

Es ist nicht so, dass die Hersteller funktionelle Nahrungsmittel einfach in die Supermarktregale stellen könnten. Alle neuen Arten von Lebensmitteln, die in die Läden kommen, müssen zuvor eine Zulassung der EU erhalten. „Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten, die unter diese Verordnung fallen, dürfen keine Gefahr für den Verbraucher darstellen“, heißt es in Artikel 3, Absatz 1 der entsprechenden EG-Verordnung. Beantragt ein Nahrungsmittelhersteller eine Zulassung für eine neue Lebensmittelgruppe, wendet sich die Kommission an die Lebensmittelsicherheitsbehörde EFSA (European Food Safety Authority). Mit dem Auftrag, eine Risikobewertung für die Produktgruppe zu erstellen.

Die Hersteller betonen nachdrücklich, ihre Produkte seien völlig ungefährlich. „Wenn wir nur den geringsten Zweifel daran hätten, würden wir sofort reagieren“, sagt Arne Kirchem, Manager bei Unilever und verantwortlich für die Becel-Produktgruppe. Schließlich, argumentiert er, sei der Imageschaden, den eine gesundheitsschädigende Wirkung eines der Produkte hätte, ein viel zu großes Risiko für einen Konzern wie Unilever. Und Danone teilt mit, das Unternehmen orientiere sich an den Untersuchungen der EFSA, laut denen die Produkte vorrangig von denjenigen Konsumenten gekauft würden, für die sie geeignet seien. Lobbyarbeit in Brüssel ist essenziell für Firmen wie Coca-Cola, Nestlé, Unilever oder Danone.

Lebensmittelkonzerne unterstützen die Forschung

Wie die meisten anderen Industriezweige auch unterhalten die Konzerne dort sowohl Büros für ihre eigenen Interessenvertreter als auch ihre Verbände und finanzieren darüber hinaus „Think Tanks“. Gesponserte Forschung gehört bei fast allen großen Nahrungsmittelherstellern zum Marketing. „Beim Konsumenten besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Wissen über Ernährungszusammenhänge und der Bereitschaft, funktionelle Lebensmittel auszuprobieren“, schreibt der Ernährungswissenschaftler Gastón Ares aus Montevideo. Deshalb stellt sich Unilever seit ein paar Jahren in deutsche Supermärkte und bietet den Kunden kostenlos Cholesterin-Schnelltests.

Bei der Gesundheitsaufklärung für Erwachsene sind die Franzosen nicht zurückhaltend. Für den Actimel-Drink gab es eine Zeit lang Broschüren inklusive Rabattgutscheinen, die über den Gesundheitsnutzen des Produkts aufklärten und in Arztpraxen und bei Ernährungsberatern auslagen. Ob Actimel indes tatsächlich Erkältungen vorbeugen kann, ist bisher nicht offiziell von der EU verbrieft. Danone hat vor gut einem Jahr den Antrag auf eine Health-Claim-Prüfung vorerst zurückgezogen. Branchenbeobachter vermuten, dass die Sorge vor dem Imageschaden, den eine mögliche Ablehnung des Antrags mit sich gebracht hätte, eine Rolle gespielt habe.

Danone dagegen begründet die Rücknahme damit, dass zunächst die Vorgaben der Behörden nicht eindeutig genug gewesen seien, welche wissenschaftlichen Belege beigebracht werden müssten. „Wir werden im Laufe dieses Jahres den Antrag erneut vorlegen und sind überzeugt, die Zustimmung zu bekommen“, heißt es aus dem Konzern.

„Goldener Windbeutel“ für Actimel

Vor zwei Jahren hatte Foodwatch den „Goldenen Windbeutel“ für die dreisteste Werbelüge an Actimel vergeben, weil nach Ansicht der Verbraucherschützer durch die Werbung suggeriert werde, dass Actimel als einziges Produkt am Markt Erkältungen verhindern könnte. Dabei stärke er das Immunsystem lediglich ebenso gut wie ein herkömmlicher Naturjoghurt.

In den Behandlungsräumen von Miriam Eisenhauer sucht man nach Werbeplakaten oder Flyern vergeblich. Die Ernährungsberaterin hat ihre Praxis in Frankfurt am Main. Auf dem Klingelschild klebt ein Aufkleber mit dem Firmenlogo, auf dem die Bürotürme Frankfurts aus Gurken und Paprika nachgebaut sind. Die Ernährungsexpertin ist der Typ Sportstudentin, jung, hübsch, Jeans und T-Shirt, die kurzen blonden Haare zurückgesteckt, leicht hessischer Dialekt. „Ich halte von dem ganzen Kram gar nichts“, sagt sie.

Zu Eisenhauer kommen Frankfurter, die Übergewicht haben, Untergewicht oder an einem Reizdarmsyndrom leiden. Fünf Sitzungen verteilt über vier Monate setzt sie gewöhnlich an, danach sollten die Leute wissen, wie sie sich gesund ernähren: möglichst viele ballaststoffhaltige Nahrungsmittel wie Vollkornprodukte, Gemüse und Obst essen, nicht zu viel Zucker. Wer eine Überweisung vom Hausarzt bekommt, bei dem zahlt die Krankenkasse 135 Euro zur Ernährungsberatung zu. Eisenhauer erzählt, dass viele ihrer Klienten ihr Fragen zu funktionellen Lebensmitteln stellen: Beugt das wirklich Krankheiten vor? Soll ich mir das kaufen? „Ich sage da immer ganz entschieden Nein“, sagt sie.

Lebensmittelzusätze kommen aus der Chemie

Ein Spot mit Bildern, die von Familienglück erzählen, von Ausgeglichenheit und Menschen, die mit sich selbst, ihrem Körper und ihrer Umwelt im Reinen sind. „Tiefenpsychologie“, sagt Klaus Menrad. „Den Geist der Zielgruppe richtig zu treffen, das ist die größte Herausforderung beim Functional Food. Die Inhaltsstoffe selbst sind dann eher Nebensache.“ Menrad kennt sich mit diesen Dingen aus wie kaum ein anderer in Deutschland. Er ist Professor für Marketing am Wissenschaftszentrum Straubing und hat als einer von wenigen Wissenschaftlern weltweit bisher erforscht, wie funktionelle Lebensmittel beworben, bepreist und in Läden platziert werden müssen, damit Kunden sie kaufen. Das Zauberwort heiße „Natürlichkeit“, sagt er. „Die Verpackung, die Werbung, alles muss nach Natur aussehen, es darf auf keinen Fall chemisch oder technisch wirken.“

Wahrscheinlich, meint Professor Menrad, fänden die meisten Leute wohl die Vorstellung, woher die Vitamine, die Phytosterine oder die Omega-3-Fettsäuren tatsächlich stammen, weniger ansprechend. Die größte deutsche Vitaminquelle liegt in Ludwigshafen, auf dem Firmengelände des Chemiekonglomerats BASF. Mehr als 20.000 Tonnen Vitamin E laufen jedes Jahr vom Band und in etwa noch einmal so viele Tonnen Vitamin A und Vitamin C. Bevor sie in den Saft, in die Cornflakes oder ins Bonbon gerührt werden, stecken die Vitamine in weißem Pulver.

Das Pulver wird in große Fässer gefüllt, auf Lastwagen verladen und dann zu den Kunden in aller Welt verschickt. Das erfolgreichste Produkt derzeit heißt Vegapure: konzentrierte Phytosterine, die in Brotaufstriche, Getränke oder Joghurt gerührt werden. „Multinationale Lebensmittelunternehmen“ seien die Kunden, sagt Massimo Armada, weltweiter Leiter der BASF-Sparte Human Nutrition. Die „hoch leistungsfähigen Inhaltsstoffe“ könnten den Kunden helfen, „auf den Wellness-Trend eine Antwort zu finden“, und das „auf Basis petrochemischer und nachwachsender Rohstoffe“

Lebensmittelherstellung erinnert an die Pharmaindustrie

Auch die Herstellungsverfahren der modernen Lebensmittelbranche erinnern stark an die Pharmaindustrie. Es deutet alles darauf hin, dass hier eine gigantische Branche entsteht, in der die Übergänge zwischen Essen und Medikament immer weiter verschwimmen. Natürlich versuchen deshalb auch die großen Pharmakonzerne, auf dem benachbarten Markt Tritt zu fassen. In den USA klappt das schon ziemlich gut. Abbott Laboratories verkauft in den amerikanischen Drugstores Puddings mit künstlich zugesetzten Ballaststoffen für unterernährte Alte, die nicht mehr gut kauen können. Johnson & Johnson vertreibt eine cholesterinsenkende Margarine.

In Europa dagegen hat sich bisher nur Novartis, der Hersteller von Schmerzsalben und Nasentropfen, an einer eigenen Functional-Food-Linie versucht. Vor zwölf Jahren ging das Unternehmen mit seiner Marke „Aviva“ an den Start, die Knochen, Herz und Verdauungstrakt stärken sollten. Nach gut einem Jahr nahm Novartis die Kekse, Müslis und Müsliriegel mangels Erfolg wieder vom Markt. Warum, weiß Marketingexperte Menrad. „Die Pharmakonzerne sind lange nicht so gut auf dem Gebiet der Imagebildung für solche Produkte wie Lebensmittelkonzerne, die dies häufig schon jahrzehntelang für ihre Markenprodukte tun.“ Novartis scheiterte, weil der Produktname, die Aufmachung der Verpackungen und die Werbung „an Krankheit erinnerten“.

Ältere Menschen sind die typischen Käufer

Krank sein, das ist das Letzte, was die Käufer von Functional Food wollen. Vor ein paar Jahren skizzierten Kollegen des Marketingexperten ein Profil des typischen Käufers krankheitsvorbeugender Lebensmittel. Das wenig überraschende Ergebnis: Der überwiegende Teil der Kunden ist über 50. „Das sind halt die Leute, die ihr Häuschen schon abbezahlt haben, die Kinder durch die Ausbildung durch haben und nun wieder mehr Zeit haben, sich mit sich selbst zu beschäftigen“, meint Menrad. Der demografische Wandel sorgt dafür, dass die kaufkräftige ältere Kundengruppe immer größer wird.

Die Lebensmittelhersteller kennen diese Zusammenhänge natürlich auch, sie stehen sogar im Internet bei Wikipedia erklärt. Und trotzdem versetzen sie weiter Brot mit Omega-3-Fettsäuren aus Raps – einfach weil es sich gut verkauft.

Es geht aber auch anders. Denn grundsätzlich, da sind sich alle Forscher einig, ist die Idee ziemlich genial, mit sinnvollen Wirkstoffen im Essen Unterversorgungen auszugleichen. So wie beim Jod, das seit Jahrzehnten in Deutschland dem Speisesalz zugesetzt wird. Durch das Jodsalz ist es nach Angaben der WHO gelungen, dass Deutschland heute kein Jodmangelgebiet mehr ist. Bloß: Lebensmittelzusätze sind nur dann sinnvoll, wenn die Konsumenten mit ihrer normalen Ernährung tatsächlich mit diesem Stoffen zu wenig versorgt sind.

Die Blaubeere ist so ein Beispiel. Sie enthält, ebenso wie etwa die Brombeere, eine hohe Menge an Anthocyanen. Diese Pflanzenfarbstoffe, ähnlich den Carotinen, braucht der Körper, um freie Radikale zu binden – was zum Beispiel Krebserkrankungen vorbeugen kann. Anthocyane gehören wie das Jod oder die Fettsäuren aus dem Fisch zu den wenigen Stoffen, von denen wir Deutschen tatsächlich mehr vertragen könnten. „Kein Wunder“, meint Karsten Köhler. „Wann isst man schon mal frische Heidelbeeren? Bei mir zumindest ist das lange her.“ Köhler steht in einem Labor des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Hier wird Verfahrenstechnik gemacht: Die Forscher entwickeln etwa Verfahren, um Lebensmittel länger haltbar zu machen oder die wertvollen Inhaltsstoffe so in Öl- oder Wasserlösungen zu verpacken, dass sie die industrielle Verarbeitung überstehen.

Violettes Pulver – Heidelbeere aus der Dose

Köhler macht in der Ecke halt, in der eine Laborantin gerade einen Versuch mit einem anthocyanhaltigen Heidelbeerextrakt macht. Das dunkelbau-violette Pulver, die Laborantin zeigt eine kleine Dose davon, könnte man nun direkt in Joghurts, Marmelade oder Säfte einrühren. Doch in dieser Form wäre es in einem Lebensmittel nicht lange stabil. Also forscht das KIT gemeinsam mit einem Forschungsverbund von zehn weiteren wissenschaftlichen Einrichtungen bundesweit, wie man es besser verpacken kann.

Die Laborantin löst das Heidelbeerpulver in Wasser auf, vermischt es erst mit einem Pflanzenöl, dann mit einer Lösung aus Kohlenhydraten, rührt es mit mehreren Maschinen durch. „Was Sie hier sehen, wird nicht mit spezieller Chemie erreicht, sondern mit dem Prozess. Somit könnte auch eine Hausfrau in ihrer Küche ganz ähnlich arbeiten, wie beispielsweise bei einer Mayonnaise“, sagt Köhler.

Lebensmittel gegen Darmentzündung

Wissenschaftler trauen den funktionellen Lebensmitteln viel mehr zu, als nur Mangelversorgung zu bekämpfen. In Zukunft, glaubt zum Beispiel Forscher Dirk Haller von der TU München, wird man damit Krankheiten in ihrem Verlauf positiv beeinflussen können. Sein Spezialgebiet die Probiotika. Früher hat Haller für Nestlé gearbeitet, heute versucht er herauszufinden, wie Darmbakterien Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen oder Diabetes helfen können. Die bisherigen Forschungsergebnisse sind ermutigend. Bei Darmkranken etwa konnten Entzündungsherde gemildert werden.

Doch das ganz große Geld wird aber wohl in Zukunft anderswo gemacht werden. Es gibt einfach viel weniger Schwerkranke, als es Gesunde gibt, die potenziell irgendwann einmal krank werden könnten. Zu Letzteren zählen die unabhängigen Wissenschaftler eben auch Menschen mit leicht erhöhtem Cholesterinspiegel. Der Knackpunkt ist: Bei Patienten mit „leicht erhöhtem“ Blutfettwert würde wohl kein Arzt auf die Idee kommen, medikamentöse Cholesterinsenker zu verschreiben.

Auf diese große Kundengruppe setzen Firmen wie Unilever und Danone. Professor Stehle in Bonn sind Lebensmittel mit Zusatznutzen bewusst noch nie in den Einkaufswagen gekommen. Krankheiten vorbeugen geht ganz anders, sagt er. Sport treiben und möglichst versuchen, nicht zu dick zu werden. „Wobei Letzteres mit zunehmendem Alter immer schwieriger wird, muss ich zugeben.“ Und was ist mit der gesund erhaltenden Ernährung? „Ich persönlich minimiere mein Risiko, indem ich alles esse“, sagt er und gießt sich ein Glas Cola light ein.

Quelle: Welt Online