Die Pille – Sex-Bombe als Weltenrevolution

Vor 50 Jahren wurde die Anti-Baby-Pille erfunden. Ihr Erfolg erklärt sich auch aus der Zeit: Die damalige Generation gierte nach Freiheit und Abenteuer. Diese Einstellung ist einer Wissenschafts-Phobie gewichen. Heute gilt sie vielerorts als böse – dabei hat gerade die Pille Millionen Tragödien verhindert.

Die Verhütungspille kennt jeder, ihren Erfinder nicht. Das könnte sich ändern, wenn unsere Nachfahren eines Tages mit mehr historischem Abstand, als wir ihn heute aufbringen, auf das 20.Jahrhundert blicken. Von den großen technischen Revolutionen des Industriezeitalters, Auto, Flugzeug, Antibiotika, Kunstdünger, Telefon, Radio, Computer, Internet, erschütterte Carl Djerassis Erfindung die Gesellschaften wohl am heftigsten – weltweit und bis in die intimsten und persönlichsten menschlichen Gefühle und Entscheidungen. Sie veränderte die Demografie ebenso wie die Sexualmoral.

Was wäre, wenn heute ein 28-jähriger Chemiker in Mexico City auf eine biochemische Substanz stieße, die die Befruchtung von Eizellen verhindert? Wie nähme die Gesellschaft das widernatürliche Mittel auf, das den weiblichen Körper manipuliert? Wie würden die Pharmakritiker, die Anhänger der Naturheiler, die Feministinnen, die Verbraucherschützer und vor allem die Anwälte, die von Sammelklagen leben, reagieren?

Natürlich gab es auch damals Bedenkenträger. Eine „Ulmer Denkschrift“ von Ärzten und Hochschullehrern warnte vor der „Bedrohung der biologischen und charakterlichen Substanz unseres Volkes“. Aber das prallte am Zeitgeist ab.

Als der Vatikan 1968 mit der Enzyklika „Humanae Vita“ die neue Art der Empfängnisverhütung verdammte, verabschiedeten sich mehr Katholikinnen von der Kirche als von der Pille. „Sich beugen und zeugen“ oder „Wir reden nicht über die Pille, wir nehmen sie“ hieß es auf Plakaten anlässlich des Katholikentags. Der Wandel war nicht mehr aufzuhalten.

Die Zeiten haben sich geändert, seit Djerassi einen Abkömmling des weiblichen Geschlechtshormons Progesteron zum Patent anmeldete. Wissenschaftler sind nicht mehr die Hoffnungsträger der Gesellschaft, sondern sie sind ihre Buhmänner geworden.

Große Teile der Öffentlichkeit unterstellen ihnen, wie Frankenstein das menschliche Leben als Verfügungsmasse ihres akademischen Ehrgeizes und ihrer perversen Visionen zu betrachten. Störenfriede im Paradiesgarten von Mutter Natur. „Viele Menschen haben eine geradezu antiwissenschaftliche Haltung“, sagt Carl Djerassi über den heutigen Zeitgeist, „das ist fast schon eine Wissenschafts-Phobie.“

Das Zeitfenster für die Einführung des ersten sicheren Verhütungsmittels in der Hand von Frauen war sehr eng. Wie sich die Grundstimmung gewandelt hat, kann man schon daran erkennen, dass die Pille für den Mann seit Jahrzehnten nicht auf den Markt kommt. Pharmafirmen schrecken vor der Entwicklung eines neuen Kontrazeptivums zurück. Die postmoderne Ängstlichkeit und besonders die ruinöse Prozesskultur bremsen Innovationen, bevor sie sich bewähren können.

Auch die Verhütungspille für Frauen war nicht unproblematisch. Nebenwirkungen blieben nicht aus. Thrombose, Depressionen, Gewichtszunahme werden – teils nachweislich, teils umstritten – mit der Einnahme des Hormonmedikaments in Verbindung gebracht. Mindestens ebenso schwer wiegen die seelischen Nebenwirkungen. Freiheit ist schwer auszuhalten.

Man kann sich nicht mehr auf ein biologisches Schicksal herausreden, sondern wird Herrin des eigenen Lebens, das es zu meistern gilt. Für die Emanzipation von der Natur zahlt der Mensch mit dem hohen Preis der Selbstverantwortung.

Manche halten es für besser, sich dem Diktat der Natur zu fügen. Doch die wenigsten sind bereit, den Preis dafür zu zahlen. Wer Natürlichkeit reklamiert, sollte das Leben von Frauen in Naturvölkern betrachten. Im gebärfähigen Alter sind sie ständig schwanger oder stillen.

Ohne Zugang zu Verhütungsmitteln sterben immer noch Jahr für Jahr Tausende Frauen in Entwicklungsländern an absehbaren Schwangerschaftskomplikationen und dilettantisch durchgeführten Abtreibungen. Die Verhütungspille hat Millionen Tragödien verhindert.

Djerassis Weltrevolution wurde durch die Sehnsucht nach Freiheit entfacht. Es ist, frei nach Marx, die Gesellschaft, die Technologien vorantreibt – und nicht umgekehrt. Als ein Jahr nach der Einführung in Amerika die „Sex-Bombe“ („Bild“-Zeitung) in Deutschland auf den Markt kam, ließ sich die Gesellschaft der Adenauer-Ära anfangs nur recht zögerlich auf das neue Mittel ein.

Doch dann ging es plötzlich sehr schnell. Die 60er-Jahre waren die Zeit des Rock’n’Roll, einer nach Freiheit und Abenteuer gierenden Jugendkultur. Und die weibliche Hälfte der Jugend forderte die gleichen Freiheiten, die zuvor nur jungen Männern augenzwinkernd zugestanden worden waren.

Alte Leute kennen noch die Formulierung: „Sie ist ins Wasser gegangen.“ Das sagte man, wenn ungewollt schwangere und mittellose junge Frauen sich aus Verzweiflung das Leben nahmen. Diese Redensart ist ausgestorben. Ein Glück.

Quelle: Welt Online