Amphetamine, Methylphenidat oder Modafinil: Englische und US-amerikanische Hirnforscher plädieren für eine Freigabe von Gedächtnispillen und Aufputschmitteln für jedermann. Deutsche Wissenschaftler sind darüber empört. Denn Nebenwirkungen und Langzeitfolgen der Arzneien sind noch längst nicht erforscht.
Lernen im Schlaf? Gehören „Gehintuner“ künftig genauso zur Grundausstattung von Schülern und Studenten wie Computer und Taschenrechner? Sieben englische und amerikanische Forscher – darunter zwei, die sich selbst als Begünstigte der Pharmabranche bezeichnen – setzen darauf.
Jüngst regten sie im Fachblatt „Nature“ dazu an, medikamentöses Hirndoping als seriöses Mittel anzuerkennen und entsprechende Tabletten für jedermann frei zugänglich zu machen. Denn die Studenten schluckten Mittel wie Methylphenidat und Amphetamine schließlich nicht, um „high“ zu werden, sondern nur, um bessere Noten zu erzielen und um ihre Lernkapazität zu erhöhen. Der Griff zur Tablette für bessere Bildung dürfe nicht länger kriminalisiert werden. Immerhin schluckten zwischen sieben und 25 Prozent der amerikanischen Studenten verschreibungspflichtige Stimulanzien wie Methylphenidat, Amphetamine oder Modafinil.
Für Deutschland liegen solche Zahlen bisher nicht vor, aber Experten schätzen, dass auch hier Pillen für bessere Leistung geschluckt werden. Die bevorzugten Wirkstoffe werden normalerweise gegen Krankheiten verschrieben: Methylphenidat und Amphetamine gegen das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS)*, Modafinil gegen chronische Müdigkeit.
Erste klinische Studien hätten gezeigt, schreiben die Forscher, dass die ADHS-Medikamente auch das Gedächtnis gesunder Personen positiv beeinflussen. Es sei aber „zu früh, um zu wissen, ob irgendeines dieser neuen Medikamente sicher und effektiv ist“. Sobald dies geklärt sei, würden die Mittel „natürlich auch von gesunden Menschen mittleren und höheren Alters, die an normalen Gedächtniseinbußen leiden, eingenommen – genauso wie von Personen, die sich auf akademische Prüfungen vorbereiten.“
Obwohl Sicherheit und Effektivität dieser Arzneien, vor allem was ihre Langzeitwirkung betrifft, unbekannt sind, spinnen die Forscher das Szenario weiter: Die Gedächtnispillen bildeten schließlich nur das Glied einer Kette technischer Innovationen und gehörten letztendlich „in dieselbe allgemeine Kategorie wie Bildung, Gesundheitsbewusstsein und Informationstechnologie“. Mit anderen Worten: Sie seien völlig normal und man solle deshalb auch frei über sie verfügen dürfen. Hirndoping sollte so einfach sein wie der Erwerb eines Nasensprays oder die Entscheidung, ob jemand einen Taschenrechner benutzen will oder nicht. „Geistig kompetenten Erwachsenen“ sollte man ermöglichen, eine medikamentöse Behandlung zur kognitiven Leistungssteigerung durchzuführen, schreiben die Forscher.
Immerhin knüpfen sie einige Bedingungen an ihre Forderung. So müsse, um Sicherheit zu garantieren, Risiken und Nebenwirkungen genauer erforscht werden. Hier habe die Politik für ein Forschungsprogramm zu sorgen. Die Verschreibung von ADHS-Präparaten müsse so erfolgen, dass nicht nur die Kinder davon profitieren, deren Eltern besonders ehrgeizig sind oder deren Lehrer eine ruhige Klasse unterrichten wollen. Unfair wäre es auch, wenn bei einer Examensprüfung nur einigen wenigen und nicht allen Kandidaten erlaubt würde, kognitive Aufputschmittel zu schlucken. Das wäre so, als ob bei einem Mathetest nur eine begrenzte Anzahl Schüler den Taschenrechner benutzen dürfte.
Ob eine kognitive Behandlung unfair ist, hänge folglich von ihrer Verfügbarkeit und von der Natur ihres Effekts ab: Verbessert sie generell das Lernen oder puscht sie nur zur Prüfungszeit? Letzteres wäre unfair, meinen die Forscher, denn dann würde nur das Prüfungsergebnis verfälscht. Würde Gehirndoping aber generell den Langzeiteffekt des Lernens fördern, könnte es moralisch eher akzeptiert werden. „Kognitive Leistungssteigerung könnte zu substanziellen Fortschritten in der Welt führen“, mutmaßen die Forscher. Um sozioökonomische Ungleichheit zu verhindern, müssten deshalb alle Examenskandidaten freien Zugang zu den Mitteln erhalten.
Doch bis dahin dürfte es noch lange dauern. Denn es fehlen die entscheidenden Voraussetzungen, um das Gehirnviagra tatsächlich großflächig und nicht nur engmaschig kontrolliert einzusetzen: Unklar ist beispielsweise, wie es offiziell gehandhabt werden soll. „Wir wissen erst sehr wenig über Kurz- und Langzeiteffekte, über Nutzen und Risiken. Welche Risiken ergeben sich bei Kindern? Wie hoch ist die Gefahr der Abhängigkeit?“ Fragen, die erstaunlicherweise ungeklärt sind, obwohl die Forscher bereits eine breite Bresche für die Pharmapotenz geschlagen haben.
In Deutschland stößt der Vorschlag allerdings auf Unverständnis, sogar auf Empörung. „Ich halte den Vorschlag für skandalös. Er ist die Anbetung der Rationalität“, sagt Professor Ernst Pöppel, Vorstand des Instituts für Medizinische Psychologie an der Universität München. „Es ist nach wie vor völlig unklar, wie groß der Effekt dieser Mittel überhaupt ist. Man geht aber stillschweigend von massiven Effekten aus.“ Alle Medikamente hätten eine „systemische Wirkung“, das heißt, sie wirken nicht nur isoliert auf die Lernfähigkeit des Menschen, sondern auch auf Bereiche wie Emotionen, Sensorik und Motorik. Diese „Nebenwirkungen“ würden bei einer derart einseitigen Betrachtungsweise völlig ausgeblendet. „Es ist die Reduktion des Menschenbildes auf die Funktionalität des Einzelnen“, sagt Pöppel.
„Seitens der Neuroforschung sollte diese Denkweise, die es ja auch beim Militär gibt, längst überwunden sein“, sagt Pöppel. Man könne natürlich der Meinung sein, dass man „alles frei geben“ sollte: „Dann werden wir irgendwann einen kleinen Menschenzoo haben, in dem wir Menschen bewundern, die ohne Medikamente leben.“
Professor Gunther Moll, Leiter der Kinder- und Jugendabteilung für Psychische Gesundheit am Universitätsklinikum Erlangen, weist auf den gravierenden Unterschied in der Wirkung der Arzneien auf Gesunde und Kranke hin: „ADHS-Kinder können mit Methylphenidat ihre Motorik besser steuern. Das Medikament ermöglicht ihnen die Teilnahme am geregelten Schulalltag. Bei Kindern und Jugendlichen ohne ADHS-Verhaltensmuster wirkt es dagegen wie ein Aufputschmittel und macht süchtig.“
Auch das vor Jahren diskutierte Risiko für die jungen Patienten, später an Parkinson zu erkranken, gilt Molls Einschätzung zufolge nur für Kinder, die nicht an ADHS leiden und trotzdem die Arznei Methylphenidat bekommen. „Das Mittel hilft doch auch nicht beim Verständnis und Erkenntnisgewinn“, sagt Moll. „Es hilft nur beim kurzfristigen Büffeln vor Prüfungen. Hierfür nun allen den Griff in die Tablettenschachtel zu empfehlen, ist offenbar einfacher, als Lernbedingungen an Schulen und Universitäten zu verbessern. Was wir brauchen, sind keine Aufputschmittel, sondern gute Schulen und Universitäten. Der Leistungsdruck ist unerträglich geworden.“
Quelle: Welt Online
* ADHS: Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom