Warum auf die alte Börse Verlass war

Der Finanzmarkt hat bei vielen Menschen Vertrauen verspielt. Mit verantwortlich dafür ist, ein verändertes Verhalten der Investoren. Sie geben ihr Geld nicht mehr, um sich an Firmen zu beteiligen, sondern um schnell hohe Gewinne zu erzielen. Doch die Börse kann auch ein Segen sein, wie ein Rückblick zeigt.

Angefangen hat alles vor rund 600 Jahren. Ab 1409 trafen sich vor dem Haus der Familie van der Burse in der belgischen Stadt Brügge regelmäßig italienische Kaufleute, um dort zu handeln. Sie feilschten um Preise für Stoffe, Nahrungsmittel, Gewürze, Getreide. Möglicherweise geht der Begriff Börse auf „van der Burse“ zurück, vielleicht gab es auch eine Vermischung mit dem lateinischen Begriff „Bursa“ (Fell, Ledersack). Jedenfalls etablierten sich die Handelsgespräche und seit 1531 gab es in Brügge ein richtiges Gebäude für die Händler, das Börse genannt wurde. 1540 folgten Augsburg und Nürnberg mit eigenen Börsen, 1585 Frankfurt. Hier liegen die Wurzeln dessen, was wir heute als Finanzmarkt bezeichnen.

Der heutige Markt hat mit dem, was damals in Brügge geschah, kaum noch etwas gemein. Innerhalb von Sekunden werden Milliardengeschäfte abgewickelt. Gehandelt werden Aktien und Zertifikate, Calls, Puts, ABS, CDS und andere schwer verständliche Produkte. Wenn heute spekuliert wird, hat dies weit größere Folgen als vor 400 Jahren.Allein in den vergangenen zehn Jahren gab es drei veritable Krisen – die Internet-Blase, die Finanzkrise 2008 und nun die Griechenland-Krise. Das Vertrauen in den Finanzmarkt wurde zerstört. Private Anleger, Riester-Sparer und Fondsbesitzer fragen sich, ob sie ihre Altersvorsorge einem System andienen können, das regelmäßig vor dem totalen Kollaps steht.

Wie aber kann das System zuverlässiger werden? Die Antwort auf diese Frage führt zurück zu den Anfängen. Damals in Brügge wurden zunächst vor allem Wechsel gehandelt. Die erste Aktie kam 1602 auf, als sich Gewürzhandelsfirmen in Amsterdam zur „Vereinigten Ostindischen Handels-Kompanie“ (V.O.C.) zusammenschlossen. Das Unternehmen dominierte zwei Jahrhunderte den gesamten Seehandel und war gemeinsam mit der britischen East India Company der erste multinationale Konzern.

Gerade in den Anfängen aber fehlte das Kapital für Expeditionen und militärische Sicherung der Routen. Wohlhabende Kaufleute, Provinzen und Städte konnten sich deshalb mit Anteilen beteiligen. Dies war zunächst noch nichts Besonderes. Doch bis dahin war es üblich, dass ein Gesellschafter seine Anteile an die Firma zurückgab, wenn er sich zurückziehen wollte. Dafür wurde er dann ausbezahlt. Anschließend musste sich die Firma einen neuen Gesellschafter suchen. Die Anteile der V.O.C. dagegen konnten nicht zurückgegeben, aber sie konnten gehandelt werden – dies war die Geburtstunde der Aktie.

Nach und nach machte das Modell Schule. Zum ersten Aktienboom kam es in Deutschland in der Gründerzeit nach dem Deutsch-Französischen Krieg. Manche der AGs, die damals auf den Kurszettel gelangten, gibt es heute noch, wie BASF, Bayer oder Siemens. Zu jener Zeit kauften die Menschen Aktien jedoch nicht wegen der erwarteten Kurssteigerungen, sondern wegen der Dividenden. Sie beteiligten sich an einem Unternehmen und erhielten dafür Gewinnanteile.

Und genau hierin liegt der ursprüngliche Sinn und Zweck von Börsen, wie die Geschichte seit der Ostindischen Handels-Kompanie zeigt. Sie dienen dazu, Unternehmen den Zugang zu Kapital zu erleichtern. Ab einer gewissen Größe brauchen Firmen mehr Kapital, als es ein Einzelner gewöhnlich aufbringen kann. Investoren geben dieses Kapital und erhalten dafür Firmenanteile. Oder wie es die Deutsche Börse auf ihrer Homepage erklärt: „Sie bietet also den Marktplatz, an dem sich Sparer und Investoren (Kapitalgeber) an der wirtschaftlichen Entwicklung von Unternehmen beteiligen können und Unternehmen (Kapitalnehmer) Geldgeber finden.“

Börsen haben damit eine wichtige volkswirtschaftliche Funktion. Sie können die Wirtschaft entscheidend voranbringen und sind so ein Katalysator für den Wohlstand der Nationen. Das ist Kapitalismus und darin liegt der Segen des Kapitalismus für die Menschheit. Man kann dies verklären, wie der Brockhaus von 1837, der schrieb, dass Börsen „in gewisser Beziehung als ein geweihter Ort betrachtet“ würden. Man kann den Finanzmarkt aber auch einfach als nützlichen Diener für das Wohl der Menschheit sehen.

In den vergangenen Jahren wurde der Diener jedoch zunehmend zum Herrn. Der Finanzmarkt führt ein Eigenleben, schwebt über der Volkswirtschaft, statt ihr zu dienen. Die begriffliche Trennung von Finanzwirtschaft und Realwirtschaft bringt dies auch sprachlich zum Ausdruck. Der Finanzmarkt diktiert der Politik inzwischen, was zu tun ist, so wie in den vergangenen Wochen bei der Rettung des Euro.

Dies liegt auch daran, dass sich das Denken der Investoren verändert hat. Sie geben ihr Geld nicht mehr, um sich damit an einem Unternehmen zu beteiligen. Sie geben es, um möglichst schnell möglichst hohe Gewinne zu erzielen. Es ist ein System geworden, das auf „Wetten und Schulden“ beruht, wie es Bundespräsident Horst Köhler ausdrückt. Die Finanzierung von Unternehmen ist bei diesem Spiel offenbar nur noch ein Nebeneffekt, obwohl dies der Hauptzweck von Finanzmärkten sein sollte. Die Verbindung zur Realwirtschaft ist gekappt.

Dies zeigt sich auch bei all den neuen Finanzprodukten, die in den vergangenen Jahren entstanden. So gibt es Wetten auf sinkende Kurse, damit Anleger auch im Abschwung profitieren. Es gibt Papiere auf Rohstoffpreise, damit Investoren auch hier dabei sind. Es gibt Anlagen, die Gewinne hebeln, Kurssteigerungen also verdoppeln, verdreifachen, verzehnfachen, damit Anleger noch schneller noch mehr Gewinn machen können. Dazu werden Kredite aufgenommen, um mit wenig Eigenkapital möglichst viele der Scheine kaufen zu können.

Doch was nutzen diese Produkte der Volkswirtschaft? Für den ehemaligen US-Notenbankchef und Obama-Berater Paul Volcker ist es klar: Die einzige sinnvolle Finanzinnovation der vergangenen Jahrzehnte war für ihn der Geldautomat. Alle anderen neuen Produkte dienten nur dazu, den Reichtum einiger weniger zu mehren, brachten aber keinerlei sozialen oder ökonomischen Gewinn.

Mehr noch: Die am weitesten verbreiteten neuen Finanzprodukte, Derivate, stehen sogar im Verdacht mehr Schaden als Nutzen anzurichten. „Ihr Einsatz führt dazu, dass die Investoren kein Gefühl mehr für Risiko haben und deutlich höhere Risiken eingehen“, sagt Eric Maskin, Wirtschaftsnobelpreisträger von 2007.

Immerhin gibt es Anzeichen, dass nun, nach der jüngsten Krise, endlich neue Regeln festgelegt werden. Doch selbst wenn dies geschieht: Gesetzliche Regelungen allein sind immer nur die halbe Miete. Sie mögen dazu beitragen, die schlimmsten Auswüchse zu verhindern. Wesentlich wichtiger ist aber ein Umdenken bei den Investoren, bei Bankern, Fondsmanagern, aber auch bei jedem einzelnen Sparer und Anleger

Sie müssen zurück zu alten Tugenden, Geldanlagen wieder als Beteiligungen am langfristigen Erfolg eines Unternehmens verstehen, als Investment in die reale Wirtschaft, nicht als virtuelle Veranstaltung mit Zahlenschiebereien zwischen Computern. Das ist sicher langweiliger als der permanente Ritt auf dem Tiger. Doch nur so kann das Vertrauen in den Finanzmarkt wiederhergestellt werden. Und nur so kann der Kapitalismus seine oft segensreiche Kraft wieder ausspielen.

Quelle: Welt Online