Mindestens 100.000 Menschen in Deutschland sind von Nasensprays oder -tropfen abhängig. Ein Arzt schätzt die Zahl gar auf eine Million. Ist kein Sprühfläschchen greifbar, reagieren Betroffene mit Herzrasen und Erstickungsangst. Fatal: Schon nach 14 Tagen Anwendung ist der Ausstieg schwer.
Für Uta Große-Brechthild (62) waren Nasentropfen fast drei Jahrzehnte ständige Begleiter. „Ich hatte sie immer dabei, in jeder Jacken- und Handtasche. Ich bin nie ohne aus dem Haus gegangen“, sagt die Rentnerin aus Essen. „Ohne Nasentropfen bekam ich keine Luft, tagsüber nicht und nachts erst recht nicht. “ Alle paar Stunden griff sie zum Fläschchen. Irgendwann waren ihre Nasenschleimhäute von der ständigen Einnahme ausgetrocknet, verkrustet und hochgradig gereizt. Ihr Hals-Nasen-Ohren-Arzt (HNO) riet ihr zu sofortiger Abstinenz. „Er meinte, ich sei auf dem besten Weg, eine Stinknase zu bekommen.“
Mindestens 100.000 Menschen sind nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen von Nasensprays oder -tropfen mit abschwellender Wirkung abhängig. Michael Damm, Oberarzt an der HNO-Uniklinik Köln, schätzt die Zahl sogar auf eine Million. Verlässliche Daten gebe es nicht, sagt Damm. „Aber es ist ein sehr weit verbreitetes Problem.“
Bei permanentem, über Jahre andauernden Gebrauch kann es wie bei Große-Brechthild zu einer sogenannten Stinknase kommen. Dann ist die Schleimhaut beschädigt und mit süßlich-faul riechenden gelblich-grünen Belägen überzogen. Betroffene sind in ihrem Alltagsleben oft stark eingeschränkt, weil sie sich zurückziehen und ihr Sozialleben leidet.
Zunächst bringen die Sprays Linderung. Wirkstoffe wie Xylometazolin oder Oxymetazolin bewirken, dass sich die Blutgefäße in der Nasenschleimhaut zusammenziehen. Schnupfengeplagte können wieder frei atmen. Doch wenn die Wirkung nachlässt, füllen sich die Gefäße umso stärker mit Blut, die Nase ist stärker verstopft als vorher. „Die Rezeptoren in den Schleimhäuten werden bei längerer Anwendung hungrig nach den Wirkstoffen, und der Betroffene hat immer häufiger immer höhere Dosen nötig“, erläutert Damm. Deswegen sei es wichtig, nach spätestens einer Woche die Tropfen wieder wegzulassen.
Schon nach zehn bis 14 Tagen regelmäßiger Anwendung ist der Ausstieg schwer: Ohne Spray fühlt sich die Nase an wie zugeschweißt, kein Atemzug geht mehr durch. Ist kein Sprühfläschchen greifbar, reagieren manche Betroffene mit Herzrasen und Erstickungsangst. „Ich war extrem süchtig und das viele Jahre lang“, schreibt „Sabine“ anonym im Internetforum parents.at. „Nasebär“ meldet sich auf imedo.de nach zweimonatigem Konsum: „Meine Nase ist total verkrustet und entzündet. Ich glaube, ich bin abhängig.“ Im schlimmsten Fall verbrauchen Patienten ein Fläschchen pro Tag, sagt Oberarzt Damm.
Beim Verkauf der Tropfen sind Apotheker verpflichtet, auf die Risiken hinzuweisen. Trotzdem werden Menschen süchtig. „Die meisten rutschen hinein in die Abhängigkeit“, sagt Damm. „Sie finden es angenehm, wieder atmen zu können. Und oft bleibt die eigentliche Ursache für eine Entzündung in der Nase unbehandelt.“
Er rät Betroffenen, gemeinsam mit einem HNO-Arzt den Ausstieg zu planen. Damm bevorzugt den radikalen Weg: Sprays mit abschwellender Wirkung sofort weglassen und nur noch anwenden, wenn es gar nicht anders geht. Die Entzündung in der Nase stattdessen mit Cortisonspray bekämpfen und die Schleimhäute mit Kochsalzlösung befeuchten. „Den meisten geht es damit nach einigen Tagen deutlich besser, nach wenigen Wochen können sie komplett auf die abschwellenden Sprays verzichten“, sagt der Mediziner. Beim schrittweisen Ausstieg benutzen die Süchtigen zunächst niedriger dosierte Sprays für Kinder oder Säuglinge um und verdünnen diese weiter mit Kochsalzlösung.
Wenn die Nase auch nach dem Entzug verstopft bleibt, können die Schwellkörper operativ verkleinert werden. Doch das sei selten notwendig, sagt Damm. Auch Uta Große-Brechthild hat den Ausstieg geschafft und ist seit zehn Jahren „clean“. „Aber leicht war es nicht, ganz und gar nicht.“
Quelle: Welt Online