Wenn es uns schlecht geht, verspüren wir Gelüste nach Kalorienreichem. Doch hilft Nervennahrung tatsächlich der wunden Seele?
Das „Fried Peanut Butter and Nanner Sandwich“ ist ein Snack von zweifelhaftem Ruhm. Es besteht aus zwei Toastbrotscheiben, die dick mit Erdnussbutter bestrichen und mit Bananenscheiben belegt werden. Anschließend wird das Ganze von beiden Seiten in einer vor Butter schwimmenden Pfanne kross gebraten. Das essbare Extrem aus Fett, Kohlenhydraten und Zucker war – kaum verwunderlich – Elvis Presleys liebste Trostmahlzeit; der „King“ verschlang sie, wann immer ihn seine Gelüste überkamen, und das kam häufig vor.
Sucht man in amerikanischen Blogs nach weiteren Trostmahlzeiten, stößt man auf den Ausdruck „Comfort Food“, zu Deutsch: Nervennahrung. Oder: Essen, das Körper und Seele hilft, wenn beide leiden. Amerikanische „Foodies“ scheinen in solchen Fällen vor allem zu Erdnussbutter mit Marshmallow-Aufstrich (dem sogenannten Fluffernutter), „Maccaroni and Cheese“ oder Brownies zu greifen. Deutsche Omas und Tanten bevorzugen traditionell Sahnetorten und Likörchen. Andere wiederum schwören auf „Cookies and Cream“-Eiscreme, Currywurst, Spaghetti „aglio e olio“ oder die „Nr. 52“ beim Asiaten.
„Comfort Food“ ist eine höchst individuelle Sache: Was wessen liebstes Trostessen ist, hängt von Faktoren wie der Lebenssituation, Herkunft, Sozialisation, dem Alter und Geschlecht des Essers ab. Aber auch davon, was und wie viel man am Abend zuvor gegessen – und vor allem: getrunken hat.
Was die Erstversorgung des sogenannten Katers angeht, so scheint der Körper in dieser Situation besonders gehaltvolle, fettig-süße, fettig-salzige und eiweißreiche Nahrungsmittel als hilfreich zu empfinden. Warum das so ist, bleibt umstritten. Der Mediziner Alan Wayne Jones vom Nationalen Labor für Forensische Toxikologie im schwedischen Linköping stellte 1997 die These auf, dass der Abbau des Alkohols in zwei Stufen ablaufe: Zunächst baue der Körper Ethanol ab, dann Methanol. Dieses wiederum würde zu giftiger Ameisensäure abgebaut – deshalb gehe es uns in dieser Phase besonders schlecht. Das sogenannte Reparierbier oder schwer verdauliche Nahrungsmittel lenkten vor der unangenehmen Auseinandersetzung mit dem Alkohol ab. Der Körper verschiebe den Kater gewissermaßen auf später, weil er sich zunächst um die Verwertung der frisch zugeführten belastenden Stoffe kümmern müsse. Im Jahr 2005 kam ein Team der Peninsula Medical School der Universitäten von Exeter und Plymouth dagegen zu dem Schluss, dass keine Beweise für die katerlindernde Wirkung bestimmter Stoffe existierten.
Aber nicht nur im verkaterten Zustand empfinden wir bestimmte Speisen als beglückend. Eine umfassende ernährungswissenschaftliche Erklärung gebe es dafür allerdings nicht, sagt der Autor und Ernährungswissenschaftler Friedhelm Mühleib. Von einfachen Ursache-Wirkung-Mechanismen nach dem Motto „Schokolade macht glücklich“ distanziert er sich. Was Schokolade und die meisten anderen Wohlfühl-Essen auszeichne, sei zum Beispiel die Kombination aus Fett und Zucker. Der Geschmacksträger Fett sorge dafür, dass wir bestimmte Nahrungsmittel als angenehm und vollmundig empfinden. „Süß“ ist nicht nur die bevorzugte Geschmacksrichtung des Menschen. Einfachzucker kurbelt zudem den Stoffwechsel an und sorgt kurzfristig für angenehme Energieschübe.
Es gebe aber durchaus Nahrungsbestandteile, so Mühleib, die unsere Stimmung aufhellten, weil sie unmittelbar auf das Gehirn wirkten. Die Aminosäure Tryptophan zum Beispiel, ein natürlicher Eiweißstoff, der in proteinreichen Nahrungsmitteln vorkommt und die Serotoninproduktion im Gehirn begünstigt. Damit dieser Vorgang im Gehirn möglich sei, müsse das Tryptophan zunächst die sogenannte Blut-Hirn-Schranke passieren. Was wiederum dann am besten funktioniere, wenn man die Aminosäure in Kombination mit kurzkettigen Kohlenhydraten zu sich nimmt: Zucker und Weißmehl sind beispielsweise regelrechte Turbo-Stimulanzien für die Serotoninproduktion. Neben Tryptophan wirkten aber auch Vitamine vielfach positiv auf den Nervenstoffwechsel und damit anregend auf den Geist. „Essen ist mehr als nur die Theorie von der Ernährung. Es ist ein umfassender Vorgang, der mit dem Leben, mit Gefühlen und individuellen Vorlieben, mit Kindheitserinnerungen zu tun hat“, sagt Mühleib.
Erinnerungen an das Lieblingsessen aus Kindertagen, das bestätigt der Psychoanalytiker Alfred Pritz, Rektor der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien, lösten bei den meisten Menschen tatsächlich Glücksgefühle aus. Gerichte wie „Omas Milchreis mit Zimt und Zucker“ oder „Mamas in Butter und Paniermehl geschwenkte Nudeln mit Ketchup“ stünden für eine behütete Zeit voller Fürsorge und Wärme. Sobald uns der Geschmack dieser Speisen, ihr Geruch und ihr Aussehen heute begegneten, würden Kindheitserinnerungen aktiviert. Pritz geht sogar noch weiter: „Essen ist unsere erste Lustquelle. Deshalb vermag Essen uns ein Leben lang glücklich zu machen.“
Ganz umsonst gibt es aber auch das essbare Glück nicht: Die meisten kulinarischen Trostspender sind Kalorienbomben, die – in größeren Mengen genossen – den Organismus mehr belasten, als ihm zu nützen. „Gerade in den westlichen Industrienationen schaden Menschen ihrer Gesundheit, indem sie Stress, Langeweile oder Frust oft mit ‚Nervennahrung‘ kompensieren“, sagt Thomas Ellrott, Leiter des Instituts für Ernährungspsychologie am Klinikum der Universität Göttingen. Schon im legendären Ekel-Film „Das große Fressen“ schaufeln die dem Leben überdrüssigen Protagonisten so lange Delikatessen in sich hinein, bis die geschundenen Körper schließlich kapitulieren. Auch der übergewichtige Berliner Spitzenkoch Tim Raue, der sich in der Öffentlichkeit auch schon mal als „fett“ bezeichnet, gestand kürzlich in einem Interview, dass er in Stresssituationen „sinnfrei irgendwas“ in sich reinhämmere. Außerdem sei er ein „Zuckerjunkie“ und saufe in solchen Momenten „kistenweise Limonade“.
Für den Psychoanalytiker Alfred Pritz ist das Essverhalten ein Indikator für den seelischen Zustand eines Menschen. Depressive, die sich kaum mehr für die Schönheit des Lebens begeistern könnten, empfänden Lust nur noch beim Essen. „In meiner Therapie berücksichtige ich deshalb immer auch die Ernährungsweise der Patienten. Nur wenn wir gut und regelmäßig essen, befinden sich Körper und Geist im Einklang.“
Müssen Schokolade, Sahnemeringue und Blaubeerpfannkuchen in Zukunft also tabu sein? „Im Gegenteil“, sagt Thomas Ellrott. Wer sich zu strenge Vorsätze auferlege, drohe an den kleinsten „Fehltritten“ zu scheitern. Langfristig seien diejenigen Menschen gesünder und letztlich auch glücklicher, die sich auch mal zu viel oder das Falsche gönnten.
Sogar ein „Fried Peanut Butter and Nanner Sandwich“ kann dem Körper also Gutes tun – vorausgesetzt, dass man sich das schlechte Gewissen danach erspart. Vielleicht war die Lücke in Elvis Presleys Seele zu groß, um mit dem ganzen Junkfood der Welt gefüllt zu werden.
Quelle: Welt Omline