Stevia ist 30 Mal süßer als Zucker, völlig natürlich und hat null Kalorien. Angeblich. Doch was steckt wirklich in dem perfekten PR-Produkt?
Wenn in Medien über Stevia berichtet wird, ist meist von Reformhäusern die Rede, in denen man vereinzelt die getrockneten Blätter des grünen Pflänzleins kaufen kann. Über die naturbelassene Landschaft Paraguays wird geschrieben, wo die Stevia-Pflanze wächst, und über indianische Stämme, die sie seit Jahrhunderten als Heilpflanze verwenden. Tatsächlich trifft das alles zu. Doch das ist nur die halbe Wahrheit.
Ab Anfang Dezember dürfen auch in der Europäischen Union Nahrungsmittel offiziell mit dem aus der Pflanze gewonnenen Süßungsmittel Steviolglycosid gesüßt werden. Mitte November gab die EU-Kommission hierfür grünes Licht, nachdem die Lebensmittelsicherheitsbehörde EFSA die Unbedenklichkeit des Stoffs bescheinigt hatte. Die Vorteile von Stevia liegen auf der Hand: Der Süßstoff ist 30 Mal süßer als Haushaltszucker, und er enthält keine Kalorien, womit er sich – zumindest auf den ersten Blick – für Diabetiker ebenso eignet wie für Kalorienzähler auf Diät.
Es sind jedoch keineswegs Indianerstämme oder Kleinbauern aus Paraguay, die sich über den neuen Absatzmarkt EU freuen können. Denn das „natürliche Süßungsmittel“ Stevia ist längst ein industriell gefertigtes Massenprodukt wie herkömmlicher Haushaltszucker oder der konzentrierte Glukosesirup.
Wer wirklich an Stevia verdient, sind die global agierenden Konzerne wie der US-Agrarriese Cargill, Coca-Cola und PepsiCo.. Die amerikanische Marktforschungsfirma Mintel schätzt, dass in diesem Jahr bereits weltweit zwei Milliarden Dollar mit dem Verkauf von Stevia-Produkten umgesetzt wurden.
„In den nächsten Monaten erwarten wir eine regelrechte Explosion weiterer Produkteinführungen“, sagt Marktforscher David Browne. Der Vorstellungskraft für die Produktpalette sind kaum Grenzen gesetzt: Joghurts, Säfte, Müslis, Brot, Salatsaucen – alles, was gesüßt wird, kann mit Extrakten aus der Stevia-Pflanze versetzt werden.
Für die global agierende Nahrungsmittelindustrie birgt der neue Wunder-Süßstoff paradiesische Aussichten. Mehrere Unternehmen verdienen bereits Millionen damit, aus den Pflanzen hochwirksame Süßstoffe zu extrahieren oder daraus neue Produkte zu kreieren – darunter der Konzern Cargill, das größte Familienunternehmen der USA mit einem Jahresumsatz von zuletzt rund 120 Milliarden Dollar. Cargill verdient sein Geld mit einer Vielzahl von Geschäften vom Viehhandel über das Betreiben von Hedgefonds bis zu Logistik.
Gemeinsam mit dem Getränkekonzern Coca-Cola entwickelte der Agrarriese einen auf Stevia basierenden Süßstoff mit dem Markennamen Truvia. Die hochkonzentrierten Extrakte, die darin stecken, sind sogar bis zu 300 Mal süßer als herkömmlicher Zucker. Cargill war auch dasjenige Unternehmen, das durch seinen Antrag bei der EU-Kommission das Genehmigungsverfahren für die Zulassung des Steviolglycosids ins Rollen brachte.
Weltmarktführer aus Malaysia
Weltmarktführer für industrielle Stevia-Süßstoffe und Lieferant für Cargill ist der malaysische Konzern PureCircle , der zuletzt einen Jahresumsatz von 53,2 Millionen Dollar erzielte – fast ausschließlich mit industriell gewonnenen und verarbeiteten Stevia-Produkten.
Die Produkte aus der PureCircle-Palette sind weit entfernt von der grünen Pflanze, mit deren Bild Stevia in der Regel vermarktet werden. Sie heißen SG95, NSF01 oder RebA. Das Unternehmen wirbt auf seiner Internetseite damit, seine Süßstoffe seien „höchst kosteneffektive Süßstofflösungen“, die über eine „voll integrierte Produktionskette“ hergestellt würden. Das heißt: Das Unternehmen kontrolliert den gesamten Produktionsprozess vom Anbau in Gewächshäusern in Kenia, Südamerika, den USA und Asien bis zum Verkauf der Extrakte in flüssiger oder pulverisierter Form.
Bei der Vermarktung kooperiert PureCircle unter anderen mit der Schweizer Firma Firmenich, einem der größten Aromenhändler weltweit. Das Geschäft läuft gut für den rund 500 Mitarbeiter großen Konzern: Allein im vergangenen Geschäftsjahr hat sich der weltweite Konsum von Stevia laut Firmenschätzungen nahezu verdoppelt. Die Öffnung des EU-Marktes verspricht weiteren Auftrieb.
Anlässlich der Präsentation der Jahresbilanz im September sagte der russische Vorstandschef von PureCircle, Magomet Malsagov: „Der neue Absatzmarkt verspricht, unserem Umsatz einen kräftigen Schub zu geben.“ Das Unternehmen verkauft seine Produkte nach eigenen Angaben an rund 150 Großkunden aus der Lebensmittelindustrie, darunter Kraft und Unilever. Der größte Abnehmer ist der US-Getränkekonzern PepsiCo.. In den USA vertreibt der Limonadenhersteller bereits seit einiger Zeit süße Getränke, die anstatt mit herkömmlichem Zucker mit der kalorienfreien Süße versetzt.
Auch für die Europäische Union setzt die Getränkeindustrie große Hoffnungen auf den neu zugelassenen Süßstoff. Coca-Cola hält weltweit rund 30 Patente auf mit Stevia-Extrakten versetzte Produkte und verkauft schon jetzt in Frankreich und der Schweiz verschiedene Varianten seiner Süßgetränke, zum Beispiel spezielle Fanta-Limonade.
Neuer Verkaufsschlager für „Diät-Getränke“
Wann und welche Stevia-Produkte Coca-Cola in Deutschland auf den Markt bringen will, kann das Unternehmen auf Anfrage noch nicht konkret beantworten. „Durch die Zulassung, die wir sehr begrüßen, haben wir überhaupt erst die Möglichkeit, innovative Stevia-Produkte mit Verbrauchern zu testen. Eine Entscheidung fällt dann aber frühestens im Sommer 2012“, sagt Christina Schwörbel-Binn von Coca-Cola Deutschland.
Derzeit werde bereits der Einsatz von Stevia-Süßstoff in Getränken für den deutschen Markt getestet. Wie hoch das Umsatzpotenzial ist, verrät das Unternehmen nicht. Stevia verspricht jedoch, einer der neuen Verkaufsschlager auf dem wichtigen Markt für kalorienreduzierte Getränke zu werden. Coca-Cola etwa erzielt schon jetzt 30 Prozent seines Umsatzes mit kalorienreduzierten Limonaden, Säften und Schorlen.
Bislang stecken darin unter anderem die Süßstoffe Aspartam und Saccharin, die jedoch beide synthetisch hergestellt werden. Süße ohne Kalorien, dazu noch aus der Natur: Aus Marketingsicht ist Stevia für die Hersteller perfekt. Ernährungswissenschaftler sind dagegen skeptisch. Zwar sei ein natürlicher Süßstoff einem künstlich hergestellten vorzuziehen, sagt die Frankfurter Ernährungsberaterin und Buchautorin („Das Prinzip GESund“) Miriam Eisenhauer.
Für Stoffwechselerkrankte mit Typ 1-Diabetes seien Stevia-Produkte wohl tatsächlich gut geeignet. „Aber wer gesund ist und abnehmen will, sollte weder synthetischen noch natürlichen Zuckerersatz verwenden, sondern komplett auf Süßes verzichten. Denn der süße Geschmack verursacht nur zusätzlichen Hunger, wir essen also mehr.“ Vermarkten lässt sich kalorienreduziertes Süßes trotzdem gut.
Möglicherweise gibt es – auf Initiative von PureCircle – demnächst in Deutschlands Supermärkten „Zucker light“ zu kaufen. Der Stevia-Hersteller hat in diesem Frühjahr ein Gemeinschaftsunternehmen mit der Braunschweiger Nordzucker gegründet, Europas zweitgrößtem Zuckerhersteller. Das Joint Venture heißt NP Sweet und will ab dem 2. Dezember, wenn die EU-weite Erlaubnis der Stevioside offiziell in Kraft tritt, EU-weit „Kombinationen aus Stevia und Zucker“ vermarkten, zunächst an Lebensmittelproduzenten. „Wir haben in den letzten Monaten mit unseren Kunden gesprochen.
Es hat sich herauskristallisiert, dass die Kombination aus Zucker und Stevia interessant für Milchmixgetränke, Softdrinks oder Fruchtzubereitungen für Joghurts sein könnte – als Ersatz für synthetische Süßstoffe“, sagt Nordzucker-Manager Klaus Schumacher. Ein kalorienreduzierter Zucker sei für die Zukunft ebenfalls denkbar. „Hinter unseren Kombinationsprodukten steht schließlich die Light-Philosophie“, sagt Schumacher.
Ein Vorbild gibt es bereits in den USA: Dort kooperiert PureCircle mit dem Zuckerhersteller Imperial Sugar und verkauft seit dem vergangenen Jahr „Sugar lite“ im Lebensmitteleinzelhandel. Also Zucker mit weniger Kalorien.
Quelle: Welt Online