Schlafmittel weckt reihenweise Koma-Patienten auf

Nachdem Koma-Patienten die Schlaftablette verabreicht worden war, wachten sie zumindest für ein paar Stunden auf. Die Ursache ist noch unklar.

Es scheint wie ein kleines Wunder: Drei Jahre lang lag der 26-jährige Chris Cox aus Memphis (US-Bundesstaat Tennessee) im Koma. Angeschlossen an eine Herz-Lungen-Maschine, die Sauerstoff in sein Blut pumpte und ihn beatmete. Er wurde künstlich über eine Magensonde ernährt.

Inzwischen reagiert er wieder auf Ansprache und wird zu Hause gepflegt. Mit seinen Blicken folgt er gezielt Personen, die sich in seinem Krankenzimmer aufhalten. Auf Fragen blinzelt er manchmal zustimmend mit den Augen oder wackelt ein wenig mit dem Zeigefinger. Auch auf die liebevolle Aufforderung seiner Mutter reagiert er: „Gib mit einen dicken Kuss“, sagt sie und hält Chris ihre Wange hin.

Wenn er schließlich mit gespitzten Lippen ihre Wange streift, kann sie den Stolz über die Fortschritte ihres Sohnes, den die Ärzte aufgegeben hatten, kaum mehr verbergen. Wenige Stunden am Tag scheint Chris Cox seinem Dämmerzustand zu entkommen. Immer dann, wenn seine Eltern ihm ein Schlafmittel verabreichen: Ambien, so die US-Markenbezeichnung der ursprünglich von Sanofi-Aventis vermarkteten Tablette, basiert auf dem Wirkstoff Zolpidem.

Da das Patent für das Mittel inzwischen abgelaufen ist, wird es unter verschiedenen anderen Namen als Nachahmerpräparat vertrieben und ist in den USA, Europa und Australien eines der am häufigsten verordneten Schlafmittel.

Das ist nicht der einzige Fall einer „Wiedererweckung“ durch dieses Medikament. Das australische Fernsehen berichtete kürzlich über den 24-jährigen Sam Goddard, der nach mehreren schweren Schlaganfällen 15 Monate lang im Koma lag. Auch er hatte das Präparat erhalten, das in Australien und in Deutschland unter dem Markennamen Stilnox bekannt ist. Daraufhin verbesserte sich der Zustand des Patienten so weit, dass er wieder in einfachen Zusammenhängen sprechen konnte – etwa eine Stunde lang nach der Einnahme.

Eine ähnliche Beobachtung machte die französische Neurologin Christine Brefel-Courbon von der Universität Toulouse. Sie untersuchte eine Koma-Patientin, die nach einem Selbstmordversuch irreparable Hirnschäden erlitten und ebenfalls Zolpidem erhalten hatte. Etwa 20 Minuten dauerte es, bis sich der Wirkstoff vollständig im Blut verteilt hatte, stellte die Forscherin fest.

Dann war die Patientin in der Lage, aufzustehen und mit Unterstützung sogar einige Schritte zu gehen. “Sie konnte Wörter wiederholen und lesen, gezeigte Objekte benennen, obgleich es ihr nicht möglich war, spontan eigene Sätze zu bilden. Zu der Wirkung kam es nur, wenn die Patientin Zolpidem erhielt”, berichtet Brefel-Courbon in einem neurologischen Fachblatt. Der drei Stunden anhaltende Effekt sei so durchschlagend gewesen, dass die Pflegeverantwortlichen sich entschlossen, der Patientin täglich bis zu drei Tabletten zu geben, ohne dass Nebenwirkungen beobachtet wurden.

Nebenwirkung: Gefährliches Schlafwandeln

Was steckt hinter dem Phänomen, das Ärzte staunen und Angehörige an ein medizinisches Wunder glauben lässt? Hinweise auf die paradoxe Wirkung des Schlafmittels lieferten geradezu unheimlich anmutende Vorfälle in den USA, wo das verschreibungspflichtige Mittel besonders oft verordnet wird. Dort häuften sich Berichte über seltsame “Nebenwirkungen”, vor allem Schlafwandeln.

Aus Polizeiberichten hatten Medien erfahren, dass immer wieder Personen aufgegriffen worden waren, die sich nachts im Pyjama hinters Steuer gesetzt hatten, ohne sich später daran erinnern zu können. Dazu gehörte auch der prominente US-Abgeordnete Patrick Kennedy, der mit seinem Auto einen schweren Unfall verursacht hatte.

Allen Fällen war eines gemeinsam: Die Betroffenen waren nicht alkoholisiert, hatten aber das Schlafmittel Ambien eingenommen. Das rief die US-Arzneimittelaufsicht FDA auf den Plan. Sie erwirkte, dass auf dem Beipackzettel vor “komplexen schlafbedingten Störungen” gewarnt wird.

Über zahlreiche ähnliche Vorfälle im Zusammenhang mit dem Wirkstoff Zolpidem berichtete auch die australische Arzneimittelaufsicht ADRAC 2007. Als häufigste Nebenwirkungen werden dort Halluzinationen, Schlafwandeln und zeitweiliger Gedächtnisverlust genannt.

Auch hierzulande haben die Hersteller von Schlafmitteln, die auf dem Wirkstoff Zolpidem basieren, Warnhinweise in die Informationen zum Beipackzettel aufgenommen. Als “selten” werden dort die unter “paradoxe Nebenwirkungen” aufgeführten Effekte beschrieben. Was bedeutet, dass circa ein bis zehn Behandelte von 10.000 Personen, die das Mittel einnehmen, betroffen sind.

Bei Koma-Patienten scheint die Rate derjenigen höher, die auf Zolpidem mit Veränderungen ihres Wahrnehmungszustandes reagieren. Dazu hat John Whyte, Direktor am Moss Rehabilitation Research Institute in Philadelphia, im Jahr 2009 eine Untersuchung an 15 hirngeschädigten Patienten veröffentlicht, die sich nach bisheriger Einschätzung in einem “unbewussten Zustand” befanden. “Darunter war ein Patient, bei dem das Mittel zu einer klaren Verbesserung des Zustandes geführt hat. Bei den übrigen 14 Patienten konnten wir keinerlei Veränderungen feststellen”, berichtet der Forscher. Eine neuerliche Studie mit einer größeren Anzahl an Patienten soll nun genauere Daten liefern.

Wirkstoff löst Muskelkrämpfe

Der Nuklearmediziner Ralf Clauss, der heute am Royal Surrey Country Hospital im südenglischen Guildford forscht, war einer der ersten Wissenschaftler, der dem rätselhaften Phänomen mit systematischen Untersuchungen auf den Grund ging. Auslöser dafür war der Fall seines hirnverletzten Patienten Louis Viljoen, der 1999 von einem Lastwagen überfahren worden war und seither im Koma lag.

Dieser hatte den Wirkstoff Zolpidem erhalten, um damit die Muskelkrämpfe des Patienten zu lösen. Daraufhin wachte Viljoen für einige Stunden am Tag auf, begann sogar wieder zu sprechen und machte rasch große Fortschritte. Clauss hat den Patienten, der nach fünf Jahren im Koma endgültig wieder erwacht ist, regelmäßig mithilfe der Positronen-Emissions-Tomografie (PET) untersucht.

Das bildgebende Verfahren macht die biochemische Aktivität von Nervenzellen mithilfe schwach radioaktiver Substanzen sichtbar. “Dabei zeigte sich eine deutlich stärker werdende Aktivität von zuvor inaktiven Hirnregionen”, berichtet der Forscher.

Ähnliche Ergebnisse erhielt Christine Brefel-Courbon. Auch sie hat entsprechende Untersuchungen an Patienten durchgeführt, die mithilfe von Zolpidem zeitweise aus ihrem scheinbar bewusstlosen Zustand befreit werden konnten. Wie das Schlafmittel dieses Kunststück bewerkstelligt und warum der Effekt sich nur bei einem Teil der Betroffenen einstellt, ist bis heute unklar.

Zolpidem löst Zwangsruhezustand auf

Bekannt ist, dass Zolpidem im Pallidum, einer Großhirnregion, die an der Steuerung zielgerichteter Handlungen beteiligt ist, Rezeptoren auf Nervenzellen aktiviert, die für den Botenstoff Gamma-Aminobuttersäure (GABA) empfänglich sind. GABA hemmt die neuronale Kommunikation, indem es die Erregbarkeit bestimmter Nervenzellen herabsetzt. Diesen sehr spezifischen Effekt machen sich auch Medikamente zur Behandlung von Panik- und Angststörungen zunutze.

Genau darin sehen manche Forscher einen Hinweis auf die Wirkweise von Zolpidem bei Koma-Patienten. Ralf Clauss vermutet, dass der Wirkstoff einen durch das Trauma bewirkten Schutzmechanismus löst. Dieser, so die These, wird durch den Nervenbotenstoff GABA ausgelöst, der große Teile des Gehirns in eine Art Zwangsruhezustand versetzt. Zolpidem sei in der Lage, diesen blockierenden Mechanismus kurz aufzuheben, glaubt der Forscher.

Nach seinen Beobachtungen beschränkt sich diese Wirkung nicht nur auf Aufmerksamkeit und Sprechfähigkeit. Das Mittel trage auch zur Entspannung der bei Koma-Patienten oft verkrampften Muskulatur bei und unterstütze so eine entlastende körperliche Haltung.

Wie der Forscher kürzlich in einer Studie an 23 hirngeschädigten Patienten nachgewiesen hat, verbesserte sich die Motorik bei zehn davon deutlich. “Bei einigen Patienten wirkt sich Zolpidem auf das gesamte Spektrum der Hirnschädigungen aus”, stellte er in der Untersuchung fest und regte weitergehende klinische Studien an. Die aber hat der Ambien-Hersteller bereits abgelehnt.

Quelle: Welt Online